Der Amoklauf des jugendlichen Schülers in Winnenden hinterlässt 16 Tote, tiefe Trauer bei den Angehörigen und Fassungslosigkeit bei uns allen. Niemand kann für den Schmerz die passenden Worte des Trosts finden – wir möchten an dieser Stelle unser tiefes Mitgefühl ausdrücken.
Eine Amoklauf hinterlässt die immer gleichen Fragen:
Was bringt jemand zu einer solchen Tat?
Wie kann man eine solche Tat verhindern?
Die erste Frage ist nicht mehr zu beantworten, der Täter ist selbst zum Opfer geworden.
Kann man Amokläufe verhindern? Ja, man kann!
So ungern die Verantwortlichen dies hören werden, zu diesem Ergebnis kommt eine Studie mit dem Titel “Handreichung zur Einschätzung bedrohlicher Situationen an Schulen” (Originaltitel: Treat Assessment in Schools: A guide to managing threatening situations and to creating safe school climates.) Die Auswertung von insgesamt 37 Anschlägen auf Schulen zwischen 1974 und 2000 in den USA zeigt:
- Alle Amoktaten wurden langfristig geplant, sie passieren nicht “überraschend”
- Alle Täter haben sich vor der Tat auffallend verhalten und oft sogar von ihren Plänen erzählt – es hat nur niemand genau hingesehen oder zugehört.
Ein junger Mann, der mit einem Gewehr in die Schule ging, zwei Schüler umbrachte
und verschiedene andere verwundete, erzählte uns aus seiner Gefängniszelle: „Ich war
wirklich verletzt. Ich hatte niemanden, mit dem ich reden konnte. Es war ihnen egal.“
Sicherheit an Schulen entsteht durch Empathie, Zusammengehörigkeit und Respekt
Klares Ergebnis der Studie: Solche schrecklichen Gewalttaten lassen sich verhindern. Entscheidend für die Sicherheit an Schulen ist ein emotionales Klima von Empathie, Zusammengehörigkeit und Respekt.
Sie wollen, dass ich mich öffne, dass ich sage, was mit mir los ist. Ziemlich
komische Bemerkung, ironisch. Wenn irgend jemand mir geholfen hätte,
das vor ein paar Jahren zu machen, wäre alles wohl gut ausgegangen.
(Tagebucheintrag eines 17jährigen Schülers, der Mitschüler in der Schule
angegriffen und sich danach umgebracht hat.)
Werte wie Empathie und Respekt entstehen nicht von heute auf morgen und lassen sich auch nicht “verordnen” – sie brauchen tägliche Praxis und Pflege. Die Lehrkräfte sind dabei Vorbild und Model – nur was sie stimmig (vor-)leben wird auch von ihren Schülern als wertvoll respektiert.
Aus meiner Sicht sind Respekt und Zusammengehörigkeit die Früchte eines empathischen Umgangs zwischen Lehrern und Schülern. Empathie schafft Verständnis für die Bedürfnisse des anderen und nur was man versteht, wird man auch respektieren. Viele Führungskräfte, und auch Lehrer, haben jedoch eine ausgeprägte Empathielücke. Sie können Schüler nicht ausreichend empathisch unterstützen und arbeiten daher mit Abwertung, Druck, Bestrafung/Belohnung etc. (Empathielücke bei Führungskräften)
Ich möchte hier nicht die Verantwortung auf die Lehrer abwälzen. Sinngemäß gilt das Gesagte auch für den Umgang in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Politik. Fehlende Empathie und Respekt wird sich immer negativ auf das emotionale Klima auswirken.
Wann tun wir etwas für echte Sicherheit an Schulen?
Zum Beispiel…
- Empathie als zentrales Element der pädagogischen Ausbildung von Lehrern einführen
- Emotionale Sicherheit als Thema der Schulentwicklung ernst nehmen
- “Empathie-Stunden” für Lehrer, Schüler und Eltern einführen (Wie geht es uns an der Schule? Was brauchen wir, um uns wohler zu fühlen?)
- Empathische Unterstützung für Lehrkräfte und Eltern anbieten, um ihre Empathielücken zu füllen
- Konstruktive Streit- und Kommunikationskultur als Lehrfach einführen
- Gemeinschaftsbildung und Teamgeist fördern
- Kooperation statt Wettbewerb fördern
- Angstfreies Lernen lehren!
Es gibt offensichtlich noch viel zu tun…
Ihre Empfehlungen, wie man etwas zur Sicherheit an den Schulen beitragen könnte, sind sehr konstruktiv und wohl auch bitter notwendig.
Allerdings habe ich selber die Erfahrung gemacht, dass solche Dinge nicht nur vor lauter Zeitdruck auf der Strecke bleiben, sondern dass die Lehrkräfte dem nicht ein wirkliches Interesse entgegenbringen.
‚Empathische Unterstützung? Hab‘ ich doch nicht nötig.‘
Manchmal frage ich mich, wie ich die Menschen etwas gezielter auf die Brisanz schlechter oder fehlender Kommunikation aufmerksam machen könnte.
Manchmal frage ich mich, ob ich Ihren Punkt: ‚Angstfreies Lernen lehren‘ nicht auch gelegentlich anders vermitteln könnte: ‚Angstfreies Lehren lernen‘.
Im Gespräch mit Erwachsenen ist mir schon öfters die konkrete Angst vor empathischer Zuwendung begegnet – nicht die Angst vor Reaktionen der Jugendlichen oder vor ihren Aggressionen, sondern Angst vor der Kommunikation an und für sich. Angst vor der Begegnung.
Aber das ist natürlich kein Grund, zu verzagen. Es ist eher ein Grund, selber die Aufmerksamkeit zu üben.
Zsolt Joanovits
@DER S!NNCOACH: Vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich teile Ihre Einschätzung – es ist viel Angst in der Schule, auf allen Seiten – mir sagte mal ein Lehrer „Wenn ich in die Klasse gehe, ist es wie Krieg“ – was für eine schreckliche Erfahrung – für den Lehrer, die Schüler…
Würde mich freuen, wenn Sie von Ihren Erfahrungen mit „Angstfreies Lehren lernen“ berichten!
Viele Grüße
Markus Sikor
Was für ein fabelhafter Beitrag! Ich bin (leidenschaftliche und freudige) Lehrerin aus Österreich und hätte dies auch auch gerne so geschrieben, aber so gut fiel mir das leider nicht ein.
Das Beste geschehe, sagte mir einmal eine Psychologin, wenn Kinder erlebten, dass man sich über sie freue! Das praktiziere ich so oft ich kann, aber andererseits nur, wenn es ehrlich ist. Kinder haben ja ultrafeine Antennen. Sie geben mir übrigens viele Gelegenheiten, mich zu freuen! 🙂
Jetzt stelle man sich mal theoretisch vor, alle Kinder würden in einer viel empathischeren Umgebung aufwachsen. Um wie viel besser könnte die nächste Generation leben! Aber leider, dies ist eine Illusion. Im Gegenteil sogar, was das betrifft ist es in den letzten 15 Jahren um vieles schlechter geworden. Wie kalt die Gesellschaft noch werden würde, hätte ich mir in meiner Studienzeit damals in Kreiskys Ära niemals gedacht. Damals dachte ich noch, „Reform“ heißt Verbesserung. Welch ein Irrtum….
Ich habe den Link von hier jetzt abgespeichert. Aber hoffentlich kommt nicht so bald wieder ein Anlass, auf ihn hinzuweisen!
Liebe Grüße!
Tirilli
P.S. ich praktiziere übrigens dieses „angstfreie Lehren“. Allerdings muss ich zugeben, ich bin an einer besonderen Schule. Es ist eine Musikschule in der ich unter anderem bis zu 30 Schüler pro Klasse in der eigentlich vom Stoff her eher langweiligen Musiktheorie unterrichte. Und sie sind „freiwillig“ da (oder weil die Eltern das so wollen) Es sind eher Kinder von Eltern die sich kümmern. Trotzdem, die Schüler die dorthin kommen, haben alle ihre Erfahrungen mit Lehrern der Pflichtschulen. aber das angstfreie Lernen geht allmählich, sie müssen sich ja erstmal an den für sie neuen Unterrichtsstil gewöhnen. Und wie oft sie besorgt immer noch kommen und sich wegen irgendwas rechtfertigen wo sie es gar nicht bräuchten. Sie sind das halt so gewöhnt! Ich sage dann immer, ich sei auch nicht fehlerlos.
Im Prinzip geht es so: Man zeigt ihnen mit Körpersprache, Reaktionen und Worten, dass man für sie da ist und nicht umgekehrt. Und! Man hört zu und sollte auch versuchen zu spüren, wie sie gerade empfinden. Das merken sie, es zeigt automatisch Wertschätzung und sie fühlen sich nicht so bald missachtet.
Liebe Grüße nochmal
Tirilli
Ich will gerne glauben, dass durch mehr Empathie, Zusammengehörigkeit und Respekt extreme Gewalt an Schulen vermieden werden kann, und natürlich wünsche ich unseren Kindern (und mir selbst) eine Schule, in der diese Werte ganz oben auf der Skala stehen und gelebt werden. Ob Amokläufe dadurch aber auszuschließen sind, bezweifle ich doch sehr.
Auch in einer Kultur die von noch so viel Empathie und Respekt geprägt ist, wird es Menschen geben, deren Selbstwertgefühl massiv unterentwickelt und gestört ist. Es wird Menschen geben, die hinter der Fassade eines ganz normalen, durchschnittlichen Lebens in einer Parallelwelt leben, in der sie ihr mangelndes Selbstwertgefühl mit Allmachtsfantasien kompensieren. Diese Persönlichkeitsstruktur ist allen bisherigen Amokläufern gemein. Entscheidend scheint mir aber, dass es eine geschichtliche Entwicklung des Amoklaufs gibt, die so schnell wohl nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
Amokläufe sind ein Phänomen, dass es erst seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gibt. Seither hat ihre Zahl und Brutalität stetig zugenommen und es wird davon ausgegangen, dass es sich dabei in erster Linie um einen Nachahmungseffekt handelt. Denn dem Amokläufer winkt etwas, was er vor dem Hintergrund seines gestörten Selbstwertgefühls schmerzlich vermisst: Aufmerksamkeit. Mit seiner Tat tritt er unübersehbar aus seiner als unterschätzt und abgewertet empfundenen Existenz heraus. Nicht nur die Menschen seiner näheren Umgebung richten ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn, medienvermittelt schaut ein ganzes Land, ja die ganze Welt auf seine Tat – und hält den Atem an. Die Möglichkeit einer globalen Inszenierung ist die eigentliche Motivation, die den unauffälligen, normalen, freundlichen Schüler mit dem gestörten Selbstwert dazu bringt, Amok zu laufen.
Die Medien spielen in diesem Geschehen eine zentrale Rolle. Sie erst bereiten die Bühne für die globale Inszenierung. Sie liefern die Bilder, die den Amokläufer ins öffentliche Gedächtnis einbrennen und unsterblich werden lassen. Und ihre Berichterstattung und die mittlerweile zahlreichen Kanäle neben den klassischen Redaktionen und Agenturen werden wohlüberlegt in die Planung des Amoklaufs einbezogen.
Diese Entwicklung lässt sich nicht einfach rückgängig machen. Die Vorbilder sind jedem bekannt und potenzielle Nachahmer wird es wohl immer geben.
Ich glaube wir müssen über eine radikale Beschränkung der Medien nachdenken: Nachrichtensperre, ein notfalls verordneter Ethos zum freiwilligen Verzicht auf Berichterstattung über extreme Gewalttaten, ein generelles Handyverbot an Schulen. Nur wenn es nachhaltig gelingt, die mediale Inszenierung eines Amoklaufes zu vermeiden, wird sich die Entwicklung stoppen lassen.