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In „gewaltfreien“ Kreisen begegnen mir häufig Aussagen wie „mit dem Herzen statt mit dem Kopf hören“, „Sprache des Herzens“ oder „den Kopf abschalten“. Neulich habe ich gelesen, dass jemand statt eines „Brainstormings“ lieber ein „Heartstorming“ gemacht hat – aha, muss man da einen Notarzt bereit halten? Ich denke dieses Herzgerede schadet der Verbreitung und Anerkennung der Gewaltfreien Kommunikation mehr als das es nützt. Die Gewaltfreie Kommunikation kommt schnell in den Ruf von naivem  Anti-Intellektualismus, der über Gefühle und Bedürfnisse reden möchte, aber die Diskussionen oder die Beschäftigung mit Gedankenmodellen und Theorien für überflüssig hält.

Gefühle und Bedürfnisse sind wichtig, aber nicht alles

Um richtig verstanden zu werden, die Gewaltfreie Kommunikation betont die Wichtigkeit von Gefühlen und Bedürfnisse für das menschliche Miteinander – und das finde ich fantastisch. Aber: Auch Gefühle und Bedürfnisse sind nicht per se „gut“ oder „wahr“. Gefühle und Bedürfnisse sind bspw. beeinflusst von der Umgebung und dem sozialen Kontext, in dem sie erfahren und interpretiert werden. In asiatischen Ländern wird Individualität nicht so betont, wie im Westen – nur ein Beispiel für den sozialen Kontext von Gefühlen. Wenn ein Drogenabhängiger spürt, dass er unbedingt seinen Stoff und die Entspannung/Erregung dadurch „braucht“,  dann sind seine Gefühle und Bedürfnisse weder „wahr“, weil durch Krankheit verzerrt, noch „gut“ für ihn. Mit anderen Worten, unsere Gefühle alleine sind nicht der Wahrheit letzter Schluss.

Benutzt Euren Verstand

Mir gefällt die Haltung des Dalai Lama dazu:

Ich empfehle den Menschen stets zweierlei. Zunächst einmal: Benutzt euren Verstand. Jede Situation kann aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. … Neben dem Verstand ist der zweite entscheidende Aspekt die Herzenswärme. Um die Grenzlinie zu überwinden, die zwischen „ihnen“ und „uns“ besteht. … Sie verhindert, dass wir uns der Gemeinschaft aller Menschen verbunden fühlen

Es braucht beides, Hirn und Herz! Der Verstand alleine führt in die Irre, weil er sich in unendlichen Perspektiven und Konzepten verlieren kann. Er braucht die Herzenswärme, die die Einheit der Menschen spürt und ihm damit eine Richtung gibt. Die Herzenswärme alleine führt in die Irre, weil sie kein richtig und kein falsch, kein gut und kein böse kennt, nicht analysiert und keine Entscheidungen treffen kann. Sie braucht den Verstand, um in dieser Welt zurecht zu kommen.

Die integrale Theorie bietet wichtige „Landkarten“ für die gewaltfreie Kommunikation

Mir gibt seit vielen Jahren die integrale Theorie hilfreiche Anregungen und ich möchte allen, die sich intensiver mit der Gewaltfreien Kommunikation beschäftigen – vor allem die Trainer und Ausbilder – anregen, sich damit zu befassen. Leider wirkt das integrale Gedankengebäude auf den ersten Blick komplex und verwendet schrecklich viele Fremdworte. Das integrale Forum  bietet auf seiner Homepage viele Texte zur Einführung, darunter auch eine kostenlose kleine Broschüre zur Integralen Theorie , modern aufgemacht, vielleicht hilft das für einen einfacheren Einstieg oder auch diese kurze Einführung von Dennis Wittrock:

 

Niemand kann sich zu 100% irren

Mir gefällt, dass die integrale Theorie versucht, alle Wissensbereiche ernst zu nehmen und zu integrieren – daher der Name „integrale“ Theorie. Ken Wilber , der wichtigste moderne Vertreters sagt oft, dass er glaubt, „niemand könne sich zu 100% irren“. Das ist doch ein sehr menschenfreundlicher Ansatz, oder? Allerdings heißt das umgekehrt auch, dass kein Wissensbereich alleine die Wahrheit für sich pachten kann. Jeder hat Recht, aber nicht jeder hat immer gleich Recht.

Die integrale Theorie spricht davon, dass sie „Landkarten“ anbietet, um diese Welt besser zu verstehen. Eine Landkarte bietet eine neue Perspektive auf die Wirklichkeit, eine vereinfachte Sicht, die aber ausreicht, um sich besser zurechtzufinden. Wie der Dalai Lama meinte, man kannalles aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Was hat die integrale Theorie nun zu Gefühlen und Bedürfnisse zu sagen?

Die vier wichtigsten Perspektiven – subjektiv/ objektiv und individuell / kollektiv

eine wichtige integrale „Landkarte“ nennt sich die „vier Quadranten“. Damit ist gemeint, dass wir jede Erfahrung, jedes Phänomen aus vier unterschiedlichen Blickwinkeln oder Perspektiven betrachten können. Dies sind die subjektive oder objektive Perspektive , sowie die individuelle oder kollektive Perspektive. Wenn man diese beiden Perspektiven in einem Quadrat aufzeichnet, ergeben sich die vier Quadranten.

4 Quadranten

Der innerliche Bereich, das Subjektive hat im integralen Modell die gleiche Gültigkeit, wie der objektive Bereich, genau wie individuelle und kollektive Phänomene.

Die vier Quadranten sind voneinander abhängig. Bspw. nehme ich ein Gefühl wahr (innerlich, individuell). Dieses Gefühl lässt sich äußerlich nachweisen durch eine neuronale Tätigkeit  meines Gehirns, durch Hormone in meinem Körper etc. Umgekehrt kann man von einer neuronalen Tätigkeit in bestimmten Gehirnregionen auf Gefühle schließen, aber man kann diese dadurch nicht völlig erklären, oder verstehen. Mit den Worten Ken Wilbers:

Die rechte Hälfte (der Quadranten, m.A.) ist sichtbar, die linke jedoch bedarf der Interpretation. Das liegt daran, dass Tiefe im Gegensatz zu Oberfläche nicht direkt wahrnehmbar ist. Auf der rechten Seite fragen wir nach dem Verhalten: „Was tut es?“ Auf der linken fragen wir: „Was bedeutet es?“

Gefühle kann man zwar messen, aber um sie zu verstehen, muss man mit einem Menschen reden, sich in ihn einfühlen und versuchen zu verstehen.

Gleichzeitig ist mein Gefühl, obwohl ganz „meins“, durch meine Kultur geformt und beeinflusst. Die Sprache die ich gelernt habe (im Quadrant rechts unten) beeinflusst natürlich, ob ich überhaupt Worte habe für bestimmte Emotionen, oder nicht. Es ist also zu vereinfacht, wenn

Die vier Quadranten helfen auch, zu verstehen, wie wir in der Gewaltfreien Kultur Bedürfnisse von Werten unterscheiden. Auch wenn beide Aspekte sehr ähnlich sind, so treten Bedürfnisse (wie Gefühle) nur in Individuen auf, Werte dagegen entstehen in Gruppen. Beide sind innerlich, man kann sie nicht sehen oder messen, aber Bedürfnisse sind individuell verursacht, Werte kollektiv. Ein Mensch hat Gefühle und Bedürfnisse, viele Menschen erzeugen ein Weltbild, eine Kultur (aber es gibt kein „Gruppengefühl, weil eine Gruppe keinen Körper hat).

 

So viel zu dieser integralen Landkarte , Fortsetzung folgt – ich freue ich über Ihre Kommentare oder Fragen.


Dalai Lama Zitat aus „Wir erklären den Frieden!“, Dalai Lama, Stéphane Hessel, Ulllstein Verlag, S. 29

Ken Wilber Zitat aus „Eros, Kosmos, Logos“, Fischer Taschenbuch, S. 167