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„Integrale Theorie“ klingt furchtbar trocken und langweilig. Manche meiner Gesprächspartner überfällt eine plötzliche tiefe Erschöpfung sobald sie das Wort „Theorie“ hören – ich versuche es dann nicht persönlich zu nehmen 😉 Vielleicht kann ich meine Begeisterung für die integrale Perspektive, die der Philosoph Ken Wilber und andere seit den 70er Jahren entwickeln, so in Worte fassen:

Die integrale Sichtweise berührt gleichermaßen mein fühlendes Herz, meine mystische Seele und meinen analytischen Verstand – und das mag ich! Ich fühle mich „endlich angekommen“ mit diesem Denkrahmen, der alle Teile von mir ernst nimmt und „sein läßt“, seien sie magisch, kindlich, rational, als soziales Wesen wie als Individuum, den fühlenden, denkenden und den sich selbst beobachtenden „Markus“. Darüber hinaus gibt mir die integrale Philosophie einen Kontext, um meine Erfahrungen mit Menschen, die ich kaum anders als „spirituell“ nennen kann, in Einklang zu bringen mit Rationalität und Wissenschaft – ohne das eine auf das andere zu reduzieren oder zu verabsolutieren.

Integrale Perspektiven auf Konflikte – am Beispiel „Jugendgewalt“

Zunächst einmal ist wichtig zu sehen, dass die integrale Theorie an sich inhaltsleer ist – sie bietet keine neuen Daten (Inhalte), sondern einen neuen Rahmen, um die vorhandenen Daten besser einordnen und verstehen zu können. Das ist durchaus ähnlich wie das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation, die einem auch keine „neuen Gefühle“ (Daten) bietet, sondern ein neues Konzept wie diese Gefühle zu interpretieren sind (als Ausdruck von Bedürfnissen).

Wilbers Philosophie versucht, alle wissenschaftlichen und subjektiv/kontemplativen Erkenntnisse der Menschheit in eine gemeinsame Landkarte zu packen, um damit allen Wahrheiten einen Platz zu geben ohne dabei eine bestimmte Richtung zu verabsolutieren. Eine bekannte Aussage Wilbers ist, dass alle Theorien Recht haben – aber eben nur nur teilweise, keine sieht das Ganze. Dieses „Ganze“ zumindest besser im Blick zu halten ist ein Anspruch der integralen Theorie.

Nehmen wir die Diskussion der letzten Wochen zum Thema „Jugendgewalt“ und betrachten wir die Argumente, die für eine Lösung des Problems angeboten wurden. Aus integraler Sicht kann die Diskussion in vier Kategorien angesiedelt werden – „Internalisten versus Externalisten“ und „Individualisten versus Kollektivisten“.

„Internalisten“
„Bessere Erziehung“, „Trainingsprogramme für gewalttätige Jugendliche“, „Betonung humaner Werte“* – dies sind die Argumente der Internalisten, die – zu Recht – darauf hinweisen, dass Jugendliche verantwortlich für ihre Taten sind. Internalisten betonen die innere Verfassung von Menschen, ihre moralische und psychologische Entwicklung und sie setzen bei Verbesserungsvorschlägen auf die Förderung dieser Fähigkeiten.

„Externalisten“
„Veränderung des Schulsystems“, „Härtere Strafen“, „Mehr Lehrer für die Klassen“ – dies sind die Argumente der Externalisten, die – auch zu Recht – darauf hinweisen, dass individuelles Verhalten von äußeren Umständen beeinflusst wird. Nicht erst seit dem bekannten Milgram-Experiment ist bekannt, dass auch „normale“ Menschen unter entsprechenden Voraussetzungen zu moralisch verwerflichen Handlungen fähig sind. Genauso naheliegend und richtig ist der Schluss, dass auch äußere Faktoren moralisches Verhalten fördern können.

„Individualisten“
„Darf der Staat Jugendliche in ein Erziehungscamp stecken?“ Individualisten betonen, zu Recht, die Rechte des Individuums in einer Gemeinschaft. Staatliche Gewalt bekommt enge Grenzen, in denen sie in die individuelle Lebensgestaltung eingreifen darf. Vertreter eines „libertären“ Systems vertreten gar die Ansicht, jeder staatliche Anspruch an das Individuum sei Zwang und somit Gewalt. Aus den den Rechten des Individuums folgen das Recht auf Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Ansprüche an den Staat (Sozialgesetze) etc.

„Kollektivisten“
„Kein Toleranz gegen jugendlichen Gewalttätern!“. Kollektivisten betonen, auch zu Recht, dass eine Gemeinschaft immer eine soziale Form und ethische Norm hat und damit die individuellen Rechte und die private Autonomie beschränkt, um als Gemeinschaft erkennbar und funktionsfähig zu sein. Aus der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft werden individuelle Pflichten begründet wie Steuern und Abgaben, Schulpflicht, Regeln, Normen, Gesetze und Verbote.

Die Argumente von Internalisten/Externalisten und Individualisten/Kollektivisten sind jeweils beschränkt wahre Sichtweisen auf die Realität. Es ist sinnlos die „Richtigkeit“ einer der Perspektiven vor den anderen beweisen zu wollen, da sie alle eine teilweise wahre Aussage treffen. (Diese vier Perspektiven sind Ausdruck der „Vier Quadranten“ als einer, aus integraler Sicht, universellen, holarchischen Struktur des Kosmos).

Die Herausforderung der integralen Perspektive

Hierbei wird auch die Herausforderung einer integralen Sicht deutlich. Die jeweiligen Perspektiven sind auf ihrer Ebene nicht miteinander vereinbar. Der Versuch eine Sichtweise als „die Richtige“ zu verabsolutieren führt nicht weiter, sondern abwärts. Die Verabsolutierung der Gemeinschaft über das Individuum hat Millionen von Menschen mit ihrem Leben bezahlt. Die Verabsolutierung des Individuums über die Gemeinschaft ist ein noch andauerndes globales Experiment – die bisherigen Ergebnisse sind aus moralischer, spiritueller und ökologischer Sicht wenig erfolgversprechend.

Dieselbe Unvereinbarkeit und gleichzeitige Abhängigkeit zeigt sich zwischen „Interalisten“ und „Externalisten“. Die Forschung und Philosophie hat schon lange die enge Vernetzung von innerer (kognitiver, moralischer etc.) Entwicklung und äußerer Struktur aufgezeigt (Konstruktivismus, Systemische Sicht).

Manchmal fällt es schwer, diese vier Perspektiven innerlich gleichberechtigt „zu halten“ ohne der Versuchung zu erliegen, „einfache Lösungen“ zu suchen. Der Versuch eine der Perspektiven zu verabsolutieren führt jedoch historisch gesehen unweigerlich zu individuellen oder kollektiven Spannungen, Konflikten und Kriegen.

Die integrale Sichtweise braucht daher eine innere Verfassung und Haltung, um die paradoxe Wahrheit („es gibt mindestens vier Wahrheiten“) anerkennen, akzeptieren und umarmen zu können. Nach dem Entwicklungsmodell Spiral Dynamics tritt diese menschliche Bewusstseinsstufe erst in den letzten Jahrzehnten in Erscheinung. Dieses „integrativ, holistische Bewusstsein“ ist, so Spiral Dynamics, in der Lage mit Paradoxien umzugehen und in Kontakt mit dem Geschmack universeller Einheit, Entscheidungen zu treffen, die zum Wohle aller fühlenden Wesen sind.

Es besteht also noch Hoffnung 🙂

(Wer sich tiefer in die Theorie Ken Wilbers einlesen möchte, dem sei das hervorragende Archiv des Integralen Forums oder diese Literatur empfohlen.)

*Zitate angeregt durch das Spiegel-Forum zum Thema Jugendgewalt.