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In Integrales Konfliktverständnis Teil I habe ich am Beispiel „Jugendgewalt“ dargestellt wie eine integrale Sichtweise auf dieses komplexe Problem angewendet werden kann. Die Einbeziehung der vier Perspektiven „Individuell/Kollektiv“ und „Subjektiv/Objektiv“ (in der integralen Theorie auch Vier Quadranten genannt) hilft dabei, wesentliche Konflikt- und Lösungsaspekte zu berücksichtigen bzw. vermeidet es, Teilwahrheiten überzubewerten.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt der Integralen Theorie, und Thema dieses zweiten Teils, ist die Betrachtung von Wachstum und Entwicklung in einer gesunden, natürlichen Abfolge (Hierarchie der Entwicklungsstufen).

Menschen entwickeln sich…

Menschen entwickeln sich, individuell und kollektiv, innerlich und äußerlich (4 Quadranten). Aber, und das ist entscheidend, Menschen entwickeln sich anscheinend nicht beliebig, sondern es gibt so etwas wie grundlegende, stabile und universelle Wachstumsstrukturen. Zahlreiche ForscherInnen untersuchten die Frage „Wie entstehen menschliche Fähigkeiten wie z.B. Wahrnehmung, Moral, Emotionale Intelligenz, Ich-Struktur?“ etc.. Dabei haben sie kulturübergreifende Muster festgestellt, (s. auch Lernstufen der Gewaltfreien Kommunikation), die man für ein integrales, d.h. möglichst umfassendes Verständnis von Konflikten berücksichtigen sollte.

So herrscht in der Forschung große Einigkeit, dass sich bspw. moralisches Verhalten überall auf der Welt in sehr ähnlichen Stufen entwickelt. Auch wenn es im Detail Unterschiede gibt, z.B. zwischen den eher weiblichen Moralvorstellungen nach Carol Gilligan (Fürsorgemoral) und den eher männlichen Moralbegriffen nach Lawrence Kohlberg (Gerechtigkeitsmoral), so bestätigen beide Forschungen die grundlegende Wachstumsstruktur, nach der sich menschliches Moralverhalten in immer umfassenderen Stufen von einem „Ich“ (egozentrische Perspektive) zu einem „Wir“ (soziozentrische Perspektive) und schließlich zu einem „Wir-alle“ (weltzentrische Perspektive) entwickelt – und manchmal noch darüber hinaus zu einem „Alle-Wesen“ (universelle Perspektive).

Kurz gefasst heißt das: Ein Baby/Kleinkind kennt nur „Ich“, es ist „egozentrisch“ – wobei dies nicht mit „egoistisch“ verwechselt werden darf (1). Später entwickelt das Kind ein Verständnis von „Wir“, d.h. die Gefühle, Wünsche und Sichtweisen anderer Menschen werden erkannt und in Entscheidungen berücksichtigt. Es lernt die sozialen Regeln und Konventionen kennen und passt sich diesen an. Kohlberg nennt dies daher auch die „Konventionelle Phase“.

„Ich“, „Wir“, „Wir-alle“ – drei Bewusstseinsebenen

Aus der Sicht der Gewaltfreien Kommunikation könnte man sagen, dass hier das Bedürfnis nach „Zugehörigkeit“ besonders wichtig ist. Die dritte Stufe der moralischen Entwicklung („Wir-alle“) geht nach Kohlberg über die konventionellen Regeln hinaus, schließt diese ein und relativiert sie. Entscheidungen werden dann nach universellen ethischen Prinzipien wie der Gleichheit aller Menschen gefällt.

Kohlberg bezeichnet die drei grundlegenden Phasen auch als präkonventionell („vor den Regeln“), konventionell („an Regeln orientiert“) und postkonventionell („Regeln integrierend und darüber hinausgehen. Da prä- und postkonventionelle Verhaltensweisen manchmal sehr ähnlich erscheinen, werden sie oft vermischt und durcheinander gebracht, was die integrale Theorie als „Prä-/Post-Verwechslung bezeichnet (siehe hier mehr dazu).

Auf allen diesen Stufen kann es Probleme und Schwierigkeiten geben. So wird eine durch ungesunde Umstände gestörte „Ich-Entwicklung“ z.B. für sogenannte „Borderline-Störungen“ verantwortlich gemacht. Auf der „Wir-Stufe“ können vielfältige Störungen auftreten, die sehr vereinfacht gesprochen zu einem geringen „Zugehörigkeitsgefühl“ führen können. Viele ungesunde grundlegende Glaubenssätze haben in dieser Phase ihre Wurzeln.

Neben der moralischen Entwicklung gibt es einige weitere Entwicklungslinien (wie Kognition/Wahrnehmung, Ich-Enwicklung, Sprache etc.) für die ähnliche Wachstumsfolgen gelten (s. hier). Welche Stufen und Phasen man auch nimmt – entscheidend für eine integrale(re) Sichtweise auf Konflikte ist der Fakt, dass sich Menschen durch diese Stufen hindurch entwickeln – es gibt kein „Überspringen“ oder „Auslassen“ von Stufen

Gesunde Hierarchien

Diese menschlichen Entwicklungsstufen zeigen in sich eine natürliche, gesunde Abfolge (Hierarchie) – die „Wir-Ebene“ ist umfassender, mitfühlender als die „Ich-Ebene“, und sie schließt diese Stufe mit ein. Die „Wir-alle-Ebene“ ist umfassender und mitfühlender als die „Wir-Ebene“ (und weitaus umfassender als die „Ich-Ebene“) – und sie schließt beide vorhergehenden Stufen mit ein, denn ohne „Ich“ und „Wir“ auch kein „Wir-alle“.

Dies gilt für alle Entwicklungsstufen – höhere Stufen zeichnen sich aus durch mehr Mitgefühl, mehr Klarheit, tieferes Verständnis, umfassendere Übersicht, tieferes Vertrauen, mehr Liebe etc. Und dass heißt, dass es neben der „Gleichheit-des Menschen-an-sich“ eben auch erhebliche Unterschiede von Menschen in ihrer moralischen, kognitiven oder emotionalen Entwicklung geben kann.

Wenn wir effektiv zur Prävention oder Lösung von Konflikten beitragen wollen, hilft es nichts, die Unterschiede zu ignorieren oder gar vermeiden zu wollen. Hitler war weniger mitfühlend und weniger liebevoll als Gandhi. Hitler hatte ein extrem ethnozentrisches Wertesystem („nur Arier sind Menschen“), Gandhi ein weltzentrisches Wertesystem („alle Menschen haben ein Recht auf Selbstbestimmung“).

Gleichheit und Unterschiede – wir brauchen Beides

Die Unterschiede zwischen der moralischen Instanz Gandhi und dem Diktator Hitler anzuerkennen bedeutet nicht, gegenüber dem Menschen Adolf Hitler weniger mitfühlend zu sein – ganz im Gegenteil! Die Fähigkeit, das Dunkle und Grausame an Hitlers Weltbild und Handlungen anzuerkennen und gleichzeitig eine zutiefst mitfühlende Haltung dem Menschen Hitler gegenüber einzunehmen, diese Fähigkeit ist Ausdruck eines integralen Bewusstseins (und damit eine eher selten anzutreffende Haltung – wie man in jeder „Stammtischdiskussion“ zu diesem Thema leicht überprüfen kann).

Die Entwicklung dieses Bewusstseins z.B. beim Erlernen der Gewaltfreien Kommunikation erfordert erhebliche Zeit und Arbeit, u.a. bei der Transformation der eigenen Feindbilder (heißen sie nun „Hitler“ oder „Bush“ oder „Bin Laden“). Als integral informierte Kommunikationstrainer-, Konfliktarbeiter- und MediatorInnen brauchen wir eben Beides: Die Haltung der „Gleichheit-des-Menschen“ und die Klarheit über die Unterschiedlichkeit individueller wie kollektiver menschlicher Entwicklung.

Oder, in der Sprache der Gewaltfreien Kommunikation formuliert: Wir brauchen die Haltung, dass alle Handlungen den universell gleichen Bedürfnissen entspringen und die Klarheit, dass es auf dem Weg zu dieser Haltung mindestens drei Entwicklungsstufen von „Wolf“ über „Baby-Giraffe“ hin zu „erwachsene Giraffe“ gibt.

Nur wenn wir Trainer- und BeraterInnen selbst diese in gewisser Hinsicht paradoxe Einsicht von gleichzeitiger „Gleichheit und Ungleichheit“ integriert und Klarheit über die Gefahr einer Prä-/Post-Verwechslung haben, können wir effektiv dazu beitragen, individuelle und gesellschaftliche Strukturen zu fördern, die den nächsten Krieg, den nächsten Genozid oder auch „nur“ die nächste Schulhofschiesserei verhindern werden.

Fußnote:
(1) Wie u.a. der Psychologe Robert Kegan gezeigt hat, entwickelt ein Kind erst im Laufe der Zeit eine Trennung von „Ich“ und „Andere“. Vieles spricht dafür, dass ein Baby alles als „Ich“ betrachtet, es kennt noch keine „Objekte“. Egoismus bedeutet meist eine ungesunde (Über-)Betonung der persönlichen Interessen ohne die Berücksichtigung oder sogar Ablehnung der Wünsche anderer Menschen – dafür braucht es aber erst eine Entwicklung und Vorstellung von „Ich“ und „Andere“ – was ein Baby/Klein-Kind eben gerade noch nicht kann. „Egozentrik“ ist daher eine gesunde und absolut notwendige Entwicklungsphase für ein Kind.