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Bisher habe ich das Thema in Teil 1 und Teil 2 aus Sicht der individuellen Perspektiven beschrieben – den beiden „oberen Quadranten“ des 4-Quadranten-Modells von Ken Wilber. Manche fragen sich vielleicht: Warum braucht es noch mehr, wenn doch „alles was ist“ entweder „innerhalb“ oder „außerhalb“ von mir stattfindet?

Gegenfrage: Zeigst du im Beisein eines Fremden, eines Freundes, deines Partners/deiner Partnerin immer das gleiche Verhalten? Denkst und fühlst du das Gleiche? Wahrscheinlich nicht. Wir sind nicht völlig unabhängig von unserer Umgebung. Die Systemtheorie lehrt uns, dass Menschen in einer Gruppe neue  Verhaltensweisen zeigen, die sich nicht allein aus den bekannten individuellen Eigenschaften erklären lassen. Wir sind soziale Wesen, wir sind auch (aber nicht nur) abhängig von und werden beeinflusst durch andere Menschen.

Ich und Du erschaffen ein „Wir“

Diese Tatsache nimmt der Quadrant „Unten-Links“ (Quadrant III) in Betracht und beschreibt die Welt aus der (Innen-)Sicht des „Wir“.  4quadrants-I-We-ItWas heißt das? Wenn du und ich uns unterhalten dann entsteht Verstehen und Verstanden-Werden ein „Wir“ – oder auch nicht, wenn du und ich uns partout nicht verständlich machen können.

Es ist eigentlich ein ziemlich phantastischer Vorgang wenn man mal darüber nachdenkt. Zwei Individuen tauschen Signale (verbal und non-verbal) aus, die die jeweilige Innenwelt (Quadrant I) beschreiben, diese Signale erzeugen mehr oder weniger Resonanz im Gegenüber, es entstehen Gedanken wie „Verstehe ich“ und Gefühle von Nähe und Gemeinsamkeit – oder auch „Ich verstehe kein Wort“ und damit Distanz und Irritation. So schwingen sich Individuen langsam aufeinander ein –  das „Wir“ entsteht.

(Grafik © Slark, Flickr)

Durch diese Kommunikation entstehen in einer Gruppe oder Gesellschaft „Dinge“ wie Werte, Ethik, Regeln, Bedeutung, Kultur, Lebensgefühl, Atmosphäre etc. Diese Phänomene kann man nirgends messen oder objektiv „sehen“ – und dennoch haben sie erhebliche Auswirkungen auf die „Welt“ dieser Gruppe – und umgekehrt (alle Quadranten beeinflussen sich gegenseitig, keiner hat die alleinige Wahrheit für sich gepachtet, die alles andere erklären könnte).

Welche Werte lebt eine Gruppe?

Wenn wir zu positiver Veränderung und sozialem Wandel beitragen wollen, müssen wir verstehen, wie ein Team oder ein Unternehmen eine eigene „Weltsicht“ entwickelt, die dann zu entsprechendem Verhalten führt. Eine jugendliche Straßengang beschreibt „die Welt“ anders als die Mitarbeiter einer Bank. Ein wesentlicher Punkt dabei ist die Frage, welches Wertesystem die Gruppe hat . (Siehe dazu auch den Beitrag Organisationen haben keine Bedürfnisse).

Als sehr einfaches Modell für die menschliche Werteentwicklung verwende ich gerne Spiral Dynamics.  Spiral Dynamics beruht auf der langjährigen Forschung von Clare Graves und wurde später von Don Beck und Chris Cowan einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Graves Forschung sollte dazu dienen, Menschen besser zu verstehen, und nicht, sie in Schubladen zu stecken und zu verurteilen. Dazu hatte er eine klare Meinung:

Jeder Mensch hat verdammt noch Mal das Recht, so zu sein, wie er ist!

Spiral Dynamcis beschreibt die Werteentwicklung des Menschen in zeitlich aufeinander folgenden Stufen oder Wellen. (In Klammern der Farb-Code der oft verwendet wird und der Zeitpunkt des Auftretens in der menschlichen Geschichte.)

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(Grafik © Slark, Flickr)

Archaisch (beige, vor ca. 100.000 Jahren )

Magisch, Animistisch (purpur, vor ca. 50.000 Jahren)

Egozentrisch, Macht-orientiert (rot, vor ca. 7000 Jahren)

Absolutistisch, Mythisch (blau, vor ca. 3000 Jahren)

Rational, wissenschaftlich, (orange, seit ca. 600 n.Chr. )

Egalitär, relativistisch, fürsorglich (grün, seit 1850 n.Chr.)

SystemischIntegrativ, (gelb, seit 1950 n.Chr.)

Holistisch, (türkis, seit 1970 entstehend)

… weitere Ebenen werden folgen.

Menschen sind nie zu 100% auf einer Stufe, sondern haben meist einen Schwerpunkt und sind bspw. 50% „absolutistisch“ orientiert, 30% „egozentrisch“ und 20% „rational“ (das bedeutet, sie geben in den Untersuchungen Antworten bzw. zeigen Verhaltensweisen, die diesen Stufen entsprechen).

Die Licht- und Schattenseiten der Werteebenen

Alle diese Werteebenen haben gesunde und ungesunde Ausformungen, d.h. sie haben alle ihre eigenen Licht- und Schattenseiten. Da die Menschheit sich laut empirischen Untersuchungen grob auf den Ebenen zwischen „Integrativ“ (1-5%) „Egalitär“ (ca. 10-15%), „Rational“ (ca. 30-50%), „Absolutistisch-Mythisch“ (30-40%) bewegt kennen wir die Licht- und Schattenseiten dieser Ebenen am besten.

Ebene Lichtseite Schattenseite
Absolutistisch-Mythisch Die Welt hat Sinn und Ordnung Dogmatisch bis hin zu Faschismus, Negiert Individualität
Rational Vernunft als hohe Erkenntnisform, Aufbrechen von Dogmen, Individualität wird betont, „Kalt“, neigt dazu, das Innenleben (Gefühle, Werte) zu ignorieren, „rationale Entscheidung“ wird überbewertet, das Unbewusste vergessen
Egalitär Gefühle, Innenleben, Gemeinschaft werden betont, gleiche Rechte für alle, Emanzipation Konsenszwang lähmt, Gefühle werden überbetont („alles muss besprochen werden, bis es allen gut geht“), Verwechselt Trans-rational mit Vor-rational, Dominanz- und Funktions-Hierarchien  (und andere „Prä-Trans-Verwechslungen„)
Integrativ Gesundes Verständnis von Hierarchie, sieht den Wert in allen Wertestufen und integriert diese, vereint Effizienz und Menschlichkeit, „Herz und Verstand“ Gefahr der Überheblichkeit, „Guruhaft“, Verschlossenheit für Feedback und berechtigter Kritik

Die Werteebenen entscheiden, wie du mit Klienten arbeiten kannst

Die meisten Berater- und TrainerInnen dürften eine egalitäre und systemische Werteorientierung vertreten, die die Gleichwertigkeit und Vernetztheit aller Menschen betont, auf das mitfühlende Wesen und eine natürliche Kooperationsbereitschaft vertraut etc. Wenn dir nicht bewusst ist, dass diese Wertehaltung in dieser Welt durchaus keine Selbstverständlichkeit darstellt, wirst du ein Problem bekommen, sobald du mit weniger „netten“ Organisationen und Gruppen zu tun hast.

Man kann in einem patriarchalisch geführten Familienbetrieb nicht erwarten, dass emanzipatorische Ideen auf große Begeisterung stoßen werden. Menschen, die eine absolutistische Auslegung z.B. christlicher Werte („in der Bibel steht…“) vertreten, werden Schwierigkeiten mit rationalen oder modernen relativistischen Werten haben. Bei meiner Arbeit in Palästina hat mir die Einsichten von Spiral Dynamcis sehr geholfen mit einigen christlich-fundamentalistischen (!) Ansichten verständnisvoller umzugehen.

Dagegen werden Mitarbeiter einer eher egalitär/integrativ strukturierten Firma wie bspw. Google allergisch auf die individuelle Kreativität einschränkende Regeln und Formalien reagieren.

Denn auch die egalitäre („grüne“) Werteebene hat mit anderen Wertvorstellungen ihre Schwierigkeiten. Ihr fällt es zwar leicht, mit Menschen umzugehen, die viel und gerne über Gefühle sprechen und alles „endlos diskutieren“, aber sie wird schnell ungehalten, wenn man allzu rational argumentiert, funktionale Hierarchien befürwortet, oder Entscheidungen getroffen werden müssen, die nicht allen gefallen.

Entwicklungspsychologen betonen, dass erst die integrative Wertebene („gelb“) alle anderen Ebenen als wertvoll anerkennen und respektieren kann. Jede Werteentwicklung hat ja einen gesunden und wichtigen Anteil, der integriert (d.h. verstanden und benutzt), statt abgespalten und verdrängt werden sollte. Als Berater müssen wir die positiven Aspekte aller Werteebenen kennen und wertschätzen lernen. Also – let´s keep growing!